Direkt zum Hauptbereich

Plötzlich 70 und erwachsen

Manchmal mag es vielleicht so rüberkommen, als wäre meine Mutter trottelig oder gar lebensunfähig. Das hat vielleicht früher mal zu einem Teil zugetroffen. Aber, seit mein Vater erkrankt war, sie sich dem Leben in der ganzen Härte stellen musste, hat sie sich gewandelt.

Geboren in den Kriegswirren in Berlin, mittendrin, in einer gutsituierten Familie. Der Vater, also mein Opa, welchen ich nie kennengelernt habe, war wohl während der Nazizeit ein hohes Tier bei der SS und ist in den letzten Zügen des Krieges mit der Familie nach Coburg geflohen. Leider wird dieser Teil der Familiengeschichte komplett totgeschwiegen. Interessanterweise hat er danach die Ortsgruppe der FDP(!) maßgeblich beeinflusst. Irgendwo liegt sogar noch ein Telegramm vom damaligen Parteichef zu seinem Tod herum.

Bei der Flucht über Polen ist meine dritte Tante geboren worden, also kann dies schon von daher kein Zuckerschlecken gewesen sein, meine Tante kam im Winter, am ersten Weihnachtstag zur Welt.
Zwischendurch stand die Familie an der Wand, drohte, von Russen erschossen zu werden, wurde von der Wand weg durch Alliierte gerettet. Hier, in einem kleinen coburger Ortsteil wurde dann endlich Ruhe und Sicherheit gefunden. In einem Holzhaus der mickrigen Art, mit teilweise bis zu elf Personen darin und einer Toilette im Garten. Wenn man aber die drei Schwestern heute so erzählen hört, dann war genau diese Zeit trotz all der Ungemache deren schönste.

Aus Mädchen werden Frauen, so hat meine Mutter meinen Vater auf einem Tanz kennengelernt. Böse Zungen sagen an Familienfeiern, dass sie ihn wohl leicht angeheitert aus einem Entwässerungsgraben gezogen habe. Tja, wo die Liebe hinfällt. In diesem Falle: zum Liegen kommt.

Meine Mutter musste mit 14 Jahren in die Fabrik gehen und Arbeiten, Schulabschluss war nicht möglich, nur die älteste Schwester hat eine Ausbildung. Mein Vater war seit seinem zehnten Lebensjahr nach der Schule am arbeiten. Beide wissen also, wie Arbeit aussieht und sich anfühlt.

Und ab dem ersten Tag ihrer Beziehung haben die Beiden gespart für ein späteres Leben. Vielleicht kommt daher mein Sicherheitsdenken, ich weiß es nicht. In der Woche 50 Pfennige, dafür haben sie sich im Lokal einen Ringel Bockwurst geteilt. Über Jahre hinweg.

Was dann auch dazu führte, dass mein Vater zu seinem 18. Geburtstag ein neues Auto hatte. 1958 war das noch keine Selbstverständlichkeit. Gewohnt haben beide zusammen bei meiner Großmutter, die mein Vater bis zu deren Tod immer bei ihrem Nachnamen genannt und gesiezt hat. Ich glaube, die Beiden waren sich eher nicht so grün. Warum genau, konnte ich aus ihnen nie herausbekommen.

Ach ja, das Auto. Na, wenn man heute den Scherz macht, dass man ein neues Auto braucht, weil der Aschenbecher voll ist - mein Vater und seine Kumpels haben damals wohl ähnlich agiert. Meine Mutter erzählt jedoch oft auch davon, wie Rennen in der Ortschaft - damals noch ohne Geschwindigkeitsbegrenzung - ausgefochten wurden, unter einem gewissen Pegel Alkohol nie gefahren wurde (ging damals wohl noch) und von der ersten Ampel und den ersten Randbaken an den Straßen. Irgendwo, aus einem Urlaub aus Frankreich zurückkommend, hat man die wohl in der Nacht erstmals gesehen. Angehalten und überlegt, ob man zwischen den Baken hindurch fahren solle. Tja, andere Zeiten. Und aus dieser Zeit stammt auch die Anekdote (hab ich schon mal geschrieben), dass meine Mutter bitte heute einmal auf der linken Seite einsteigen möge, auf der rechten klemme die Tür. Muss wohl eine Diskussion entstanden sein, nach der meine Mutter dann doch auf der Beifahrererseite entern wollte. Und sah, dass von der rechten Seite recht wenig übrig war. Irgendwie war das Auto in der Nacht von einem Straßengraben angegriffen worden. Wenn sie das erzählt, merkt man auch heute noch, dass sie da richtig sauer wurde.

Nur ein paar Wochen weiter kam ein neues Auto. Auch erstmals mit einer ordentlich funktionierenden Handbremse in Reichweite des Beifahrers. Streit, Ärger, ein Griff von meiner Mutter zur Handbremse - und das nächste Auto bitte. Wenn man so den Erzählungen Glauben schenken darf, dann wurden die Autos eher verschrottet als verkauft oder eingetauscht.Schlägereien auf den Tanzböden waren eher die Regel als die Ausnahme, bei Feiern im Familiengarten waren die meisten Polizeiautos aus der Coburger PI inklusive der Besatzungen vor Ort. Als Gäste. Damals noch möglich, bis einer höheren Stelle diese Umstände bekannt wurden. Lange her, heute kann ich das schreiben. Und seit dieser Zeit brauche ich für das anstecken eines Bierfasses auch keinen Hammer. Lernt man eben, wenn die richtigen Leute um einen herum sind. Und das Pfannenfleisch des einen Kumpels meines Vaters. Auch 35 Jahre nachdem es dieses gab, habe ich noch genau den Geschmack im Kopf und weiß, wie und wo es zubereitet wurde. Da erfolgte wohl auch meine Prägung auf Essen.

´70 dann meine Geburt, noch immer bei der Oma wohnhaft. Und ´73 ein Unfall - meine Schwester wurde geboren. Kein Scherz, war ungeplant und auch nicht so gewünscht, nachdem ich ja bei meiner Geburt ordentlich Ärger gemacht habe. Hat sich dann aber erledigt. Und in der kurzen Zeit, in der meine Mutter im Wochenbett lag, hat es mein Vater geschafft, eine große Wohnung, Einrichtung und Ausstattung zu besorgen. Erstmal war meine Mutter in einer eigenen Wohnung, nur die kleine Familie. Was aber nicht bedeutet, dass meine Oma nicht auch diesen Weg gefunden und meine Mutter weiterhin als Bedienstete angesehen hat. Meine Oma habe ich übrigens nie kochen sehen, angeblich konnte sie das sogar. Auch von Wäsche waschen und anderen Dingen der Haushaltsführung hatte sie angeblich mal gehört. Was auch ausreichte, denn - meine Mutter war ja da.

1980 das erste der eigenen Häuser bezogen. Garten, Eckgrundstück, schöne Lage, unverbaubar. Aber - irgendwie vom Schnitt auch ein Haus der ausgehenden 1970er Jahre. Gerade einmal 113 qm Wohnfläche war dann doch mit den Pubertieren zu wenig. Auch die Nachbarn waren eher anstrengend. Komisch, wir Kinder haben uns mit denen verstanden. Vielleicht lag das auch daran, dass meine Mutter...? Ach, was weiß ich.

Ab ´83 war mein Vater selbstständig, meine Mutter hat dort die Raumpflege übernommen. Auch noch eine weitere Putzstelle bei einer Versicherungsagentur. OK, ihre Tage waren jetzt nicht sooo ausgelastet, aber wir Kinder waren ja auch noch da. Das sie nicht gearbeitet hat, kann man ihr also schon mal nicht vorwerfen. Und es waren Arbeiten, die teils doch recht körperlich waren.

1988 dann der letzte Umzug. Endlich ein Haus, was auch mit ihr zusammen geplant wurde. Und plötzlich stand da die vierfache Fläche da, die sauber gehalten werden wollte. Stadtnähe, alles so, wie sie es sich gewünscht hatte. In dieser Zeit kamen dann auch die ersten ihrer körperlichen Beschwerden. Ich war ein wenig renitent, sie eher unverständig. Was also heißt: es hat bei uns ordentlich gerumpelt. Zu dieser Zeit war sie auch eine Frau, deren Mann einfach alles geregelt hat, bis auf die Auswahl, welche Büchse zum Mittag geöffnet werden würde. Boom, Maueröffnung, wir haben teils richtig lange Tage und Wochen gehabt, meine Mutter konnte das Leben genießen, Geld war immer da, zwar hat sie auch den Wert gekannt, aber nicht so recht registriert.

Ungefähr 2005 kamen im Nachhinein betrachtet die ersten Auffälligkeiten im Verhalten meines Vaters zutage. Meine Mutter konnte damit überhaupt nicht umgehen. Auch dann nicht, als die Diagnose "Demenz" erstmals bestätigt wurde. Bisher hatte sie es einfach nicht interessiert, hatte ihre eigene kleine Welt, in der es sich nur um sie drehte.

Bis dann die Einlieferung in ein Heim unumgänglich wurde. Plötzlich stand hier eine Frau Ende 60, alleine auf weiter Flur mit Rechnungen, Geldeingängen, Fragen zum Haus und des allgemeinen täglichen Lebens. TÜV. Kannte sie vom Namen, keine Ahnung wann und wo und wie. Und schon gar nicht wieviel. Die Rechnungen gingen bis dahin ja an den Mann, der das beglichen hat.

Hausabgaben? Hallo? Was ist das? Versicherungen? Welche haben wir denn da? Wohin geht das Geld? Und viel wichtiger - wie komme ich an Geld, um zu leben? Alles Dinge im Leben, die zwar vorhanden waren, aber vernachlässigt werden konnten. Weil: der Mann.

Und irgendwann war es wohl so, dass die Erkenntnis in ihr gereift war, dass es alleine nicht weiter geht. Wer sollte aber helfen? Kurz: wir haben heute ein bedeutend besseres Verhältnis, als es früher mal war. Kein Streit, kein Ärger. OK, ab und zu kommt mal wieder einer der Sätze, die mich auf die Palme bringen. Kein Mensch außer ihr kann dies so gut. Aber, alles im normalen Maß.

In den letzten Jahren hat sie also Finanzmanagement, Organisation der alltägliche Dinge und alles was zum Leben dazugehört gelernt. Mit Fug und Rech kann sie behaupten, endlich, mit über 70 Jahren erwachsen und ein kompletter Mensch geworden zu sein.

Was sie natürlich nicht davon abhält, ab und zu auch einmal einen Bock zu schießen. Wäre ja auch langweilig, wäre das nicht so.

Mal wieder eine kleine Episode aus der Reihe "Was ich für die Nachwelt aufschreibe, da mit mir und meiner Schwester die Linie ausstirbt und wir niemanden zum erzählen haben werden. Vielleicht kann ich so ein klein wenig unserer Familiengeschichte für die Ewigkeit konservieren.

Kommentare

  1. Wow. Danke für den Blick dahinter. Man sieht aber mal wieder, dass Menschen durch die Umgebung und durch Situationen mindestens genauso geprägt werden wie durch Gene. Und dass der Mensch alles schaffen kann, wenn er muss. Ich bewundere das!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Naja, in letzter Zeit habe ich ja eher über ihre Missgriffe geschrieben. Was natürlich auch selektiv ist. Ein klein wenig hoffe ich das Bild gerade gerückt zu haben.

      Gruß, Holger

      Löschen
  2. Sehr schönes Posting!

    Diese Generation hat doch einiges mitgemacht. Ich persönlich komme mir da irgendwie verweichlicht vor.

    LG

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke. Ja, die waren wirklich härter als wir. Wenn auch gezwungenermaßen. Und trotzdem wollen sie nicht unser Leben führen. Zu hektisch und zu technisch.
      Gruß
      Holger

      Löschen
  3. Da haben sie auch recht find ich. Zu hektisch und zu technisch. Ich wohne an einer der am meisten befahrenen Straßen unserer kleinen Stadt. Ich hab mich dran gewöhnt, es stört mich nicht, ich kann gut schlafen. Trotzdem weiß man erst, was wirkliche Ruhe ist, wenn man sie erlebt hat. Ich weiß, ich habe es schon mal erzählt: Es ist eine unglaublich tolle Erfahrung, ein paar Tage auf einer autofreien Insel zu verbringen. Völlig ohne Verkehrslärm. Und das dann auch bewusst wahrnehmen. Aber ich schweife ab...

    Gefällt mir auch, deine Familiengeschichte. Ich hoffe, du schreibst sie noch weiter.

    Es ist unglaublich, wie viele Menschen es gibt, die mit alltäglichen Dingen nicht klar kommen, weil immer der Partner diese erledigt hat. Aufgabenverteilung gut und schön, aber wie man eine Überweisung tätigt, sollte man schon wissen. Z.B.. Der NM ist auch so ein Exemplar.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Da habe ich immer Glück gehabt. Immer Nebenstraßen oder Randbezirk. Innenstadt? Obwohl bei uns fast alles Fußgängerzone ist - niemals.

      Zum abnehmen der Aufgaben. Tja, jeder macht eben das, wozu er sich berufen fühlt. Solange, bis man es eben selbst erledigen muss. Meist schmerzhafter Prozess, aber erlernbar.

      Löschen
  4. Kann man sehen wie man will, wie so oft bei so vielem. Ich hab Glück, dass ich hier wohne. Da ich kein Auto habe konnte mir gar nix besseres passieren. Jedesmal, wenn ich merke, dass mir das Klopapier ausgegangen ist müsste ich sonst wer-weiß-wie-weit mit dem Rad fahren, nee, danke. Ich hab auch andererseits den Wald quasi vor der Tür. Wenn ich aus dem Haus komme und dreimal lang hinfalle bin ich schon drin ;-). Ich habe ja vorher auch sehr ruhig gewohnt und dachte, dass mich die Lautstärke hier nervt, aber nein, ich registriere das kaum noch. Und wenn ich es registriere stört es mich nicht.

    AntwortenLöschen
  5. Na, in der Gruft wohne ich ja auch nicht. Aber in einem Seitenarm einer Hauptstraße. Und da ist es angenehm ruhig, aber nicht tot. Wenn mal - Fußballabend! - gar kein Auto fährt, dann ist das auch gespenstisch.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ragout Fin - der Convenience-Test

Mitte der 70er Jahre im 20. Jahrhundert war es ein Edel-Essen auf jeder besseren Party; Ragout Fin . Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Mutter diese -damals noch recht teuren- Blätterteigförmchen gekauft hat. Und drei Tage vorher wurde uns das Maul schon wässrig gemacht. Zumindest haben mich diese Teilchen auf Anhieb überzeugt. Eigentlich mehr der Inhalt, den ich auch Heute noch gerne esse. Zeit, einen Test zu veranstalten, nachdem in der letzten Zeit immer mehr dieser Convenience-Produkte auf den Markt kommen. Im Test befinden sich Aufwärm-Produkte von verschiedenen Discountern, teils auch Aktionsware wie das Produkt der Marke Sodergarden, hergestellt von Tulip . Zwar sind diese nicht immer zu bekommen, einen Geschmackstest kann man ja trotzdem machen. Natürlich völlig uneigennützig... Erwärmt werden die Produkte jeweils auf 60° Celsius, um eine Basis für die Vergleiche zu haben. Gemessen werden die Temperaturen mit einem Digitalthermometer, um eine Überhitzung und somit

Glaubenskrieg an der Bratwurstbude

Semmel, unbeschnitten Evangelisch oder katholisch? Für Coburger ist das wichtig. Ihr wollt uns Coburgern unsere Wurst verändern? Niemals! Nehmt unsere Veste, schändet alle unsere Jungfern . Egal, um Mitternacht machen wir den Deal - aber lasst unsere Wurst in Ruhe. Coburger Saftschinken? Gibt es nicht mehr. Bier aus Coburger Brauereien ? Verkauf an einen Konzern in Kulmbach. Aber was sich nun abspielt, das erschüttert die Coburger. Zur Erklärung: Semmeln (halbe Doppelbrötchen) werden in Franken entweder "evangelisch" oder "katholisch" aufgeschnitten. Was bedeutet: "evangelisch" ist ein Längsschnitt auf der Oberseite, "katholisch" ein Schnitt an der Längsseite. Und eine Bratwurst wird in Coburg IMMER unversehrt an den Kunden gegeben. Da wird nichts abgeschnitten, gedrückt oder gar zerlegt wie eine Currywurst. korrekte, einzig mögliche und denkbare Schnittlinie senkrecht nicht denkbare waagerechte Schnittlinie, für alle andere

90 Minuten Ruhe und Entspannung

Bild: Eingangsbereich zum Bad in Bad Staffelstein Piscina. Ich war überrascht, dass ich zu meinem Geburtstag einen Gutschein für einen Aufenthalt im Piscin a bekommen habe. Mir war der Begriff bis dato nur als kirchlicher bekannt, bezeichnend für das Handwaschbecken in Kirchen. Einfach zu Reinigung. Bild: Die Piscina Und die Assoziation war nicht einmal so falsch. In oben genannten Gutschein-Fall ist Piscina etwas erweitert zu sehen, und zwar als Becken, in welches man Wasser füllt - und eben wieder ablässt. Dieses Piscina befindet sich in dem der Klinik Bad Staffelstein angeschlossenen Bad. Unseres, wir hatten das mit der Nummer eins, wird durch eine Art Schleuse betreten, die gleichzeitig auch als Umkleideraum fungiert. Da diese nur durch einen einfachen Fallriegen zu verschließen ist, empfehlen wir, Wertsachen im Auto zu belassen. Die Piscina selbst ist komplett gefliest, helle, freundliche Farben, zwei Schalen mit Kerzen sorgen für eine gewisse Grundstimmung, eine eigene Dusche sow