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Mutterherzen

Wir haben da eine Bekannte, die unsere Familie seit der Sturm-  und Drangzeit meiner Eltern freundschaftlich verbunden ist. Ich kenne diese Menschen nur am Rande, aber eben auch schon über vier Jahrzehnte. Nette Menschen, im Leben stehend, eigentlich ganz normal und eine behütete Familie.

Die Kinder sind wohlgeraten und beide haben Ziele im Leben. Der Sohn studiert bereits, die Tochter hat eine Lehre angefangen, die sich langsam dem Ende zuneigt. Als irgendwann die Tochter immer dünner wird, schlapper, müde und zu nichts mehr Lust hat. Einige andere Symptome kommen dazu, die Familie hat dann ein "Geheimnis" noch lange Zeit für sich mit herum getragen, konnte nicht darüber sprechen und musste die Verarbeitung erst in der Familie klären.

Irgendwann war es dann so offensichtlich, dass eine - berechtigte - Geheimhaltung nichts mehr genutzt hat. Die Diagnose war endgültig, eine multiple Autoimmunerkrankung. Eine Form, die die inneren Organe über die nächsten Jahre auflösen, abstoßen würde. Ein grausamer Tod, noch dazu für einen Menschen, der unter zwanzig Jahre als sein wird, wenn er stirbt.

Die Zeit bis zum Unvermeidlichen hat die Familie besonders liebevoll verbracht, die Tochter ein besonderer Mensch, hat niemals die Sonderstellung ausgenutzt oder sich gegenüber anderen Menschen übellaunig oder schroff benommen. Und sicher war ihr an einigen Tagen ganz anders zumute.

Irgendwann, sie wurde immer schwächer, die Medikamente, die den Tod hinauszögern sollten, wurden wirkungslos. Nachdem die junge Dame nun schon über 18 Jahre alt war, konnte sie selbst für sich entscheiden, ob eine neue Therapie angefangen wird oder sie zumindest die Nebenwirkungen für die letzten Wochen nicht ertragen müsse. Die Entscheidung fiel auf eine letzte kurze Zeit ohne neue Beschwerden, die durch die Medizin verursacht werden würden. Nach den Erzählungen nach der Beerdigung können wir nur erahnen, welche Schmerzen dieses junge Leben ertragen musste. Heute noch habe ich größten Respekt davor.

An einem Tag, passenderweise trüb und regnerisch, kam dann der Anruf, dass das Mädchen gestorben war. In der Nacht, friedlich, mit nur leichten Schmerzen, da die Schmerzmittel, die sie in den letzten Tagen bekam, recht wirksam waren. Sie wusste, dass es zu Ende geht, hat dies tapfer ertragen und sogar die Familie noch aufgebaut.

Die Familie selbst ist, wie in Coburg fast selbstverständlich, evangelisch. Was also bedeutet, dass der leblose Körper abgeholt und in einem Kühlfach gelagert wir, bis die Beerdigungsmodalitäten erledigt sind. Am Morgen des Todes wurde also der Transport in ein Institut organisiert, die Kleidung für die letzte Reise mitgegeben und das Nötigste besprochen.

Irgendetwas muss aber in der Mutter gearbeitet haben, hat sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Erfahren, dass etwas anders ist als sonst, haben wir, als die Beerdigung verschoben wurde, um ganze drei Tage. Gleichzeitig kam die Einladung, in den nächsten Tagen direkt von ihr Abschied zu nehmen - an der Wohnadresse der Familie. So etwas ist bei uns in der Gegend seit Jahrzehnten eher ungewöhnlich, auch nicht Jedermanns Sache. Wie sollten wir uns verhalten? Auf die Beerdigung gehen und die Aufbahrung vermeiden? Wie würde sie aussehen? Würde es riechen? Immerhin wurde der Leichnam drei Tage ohne Kühlung liegen. Und wie würde die Familie sich geben?

Um es kurz zu machen: ich habe nicht die Kraft gefunden, einen Besuch zu machen, bin nur auf die Urnenbeisetzung gegangen. Meine Mutter jedoch hat sich schweren Herzens und mit sehr gemischten Gefühlen zur Familie begeben. Am ersten Tag, gleich nach der Freigabe des Totenzimmers durch den Bestatter. Erzählt hat sie mir später, dass sie wie schlafend, friedlich aussah. Lebensnah geschminkt, nicht so, wie man sich einen toten Menschen vorstellt. Von anderen Besuchern, die erst am dritten Tag dort auftauchten, haben wir später erfahren, dass der Geruch und die Optik alles andere als dazu zuträglich waren, die Kleine in der Erinnerung zu behalten, wie man es sich wünschen würde.

Drei Tage und auch die drei Nächte hat die Mutter am Bett ihres toten Kindes gesessen, kaum gegessen, wenig getrunken und nur Minuten geschlafen. Immer die Hand ihrer Leibesfrucht in ihrer. Tagaus, tagein.

Was für uns - zumindest für mich - undenkbar ist, hat der Mutter geholfen, den Tod der Tochter zu verarbeiten, Abschied zu nehmen und die Trauerarbeit zu leisten, die für sie wichtig war. Das Leben ging weiter, auch für die Mutter. Ohne ein schweres Herz und ohne Trauer, die ihr und vielleicht auf ewig auch der Familie die Zukunft verbaut hätten.

Kommentare

  1. Der Titel sagt eigentlich alles. Es ist das Schlimmste was passieren kann und dann das Kind vorher noch so leiden zu sehen...

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  2. Ich möchte niemals erfahren müssen, wie groß die Schmerzen sind. Warum auch immer, heute, nach langen Jahren, habe ich daran gedacht.

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  3. Das ist so furchtbar sein eigenes Kind begraben zu müssen,
    ich hab Tränen in den Augen.

    Dir alles Liebe,
    Cynthia

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    1. Das ist schon Jahre her, ich war einiges jünger, erst heute kann ich realisieren, wie hart das für die Eltern - und auch für das Kind und den Bruder - war. So lange habe ich nicht daran gedacht, jetzt macht es mich nachdenklich.
      Auch Dir alles Gute
      Holger

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  4. Oh weia. Beim Lesen kommen einem ja fast schon die Tränen. :(

    Ich hätte es auch nicht gekonnt, also das anschauen sozusagen.
    Ich glaub, die Russen machen das auch. Zumindest meine eine Exkollegin ist Russin und die erzählte von solchen Verabschiedungen.
    Ich möchte die Person lieber so in Erinnerung behalten, wie sie zu Lebzeiten war...

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    1. Auch in manchen katholischen Ecken in Bayern scheint das heute noch so zu sein. Früher war das auch in unserer Ecke so. Die Oma meines Schwagers war Leichenwäscherin, die ging zu den Leuten nach Hause, hat die Toten dort hergerichtet und auch angezogen. Dort waren die bis zu einer Woche, dann erst wurden die begraben. Ich möchte nicht eine Woche einen toten Menschen um mich haben, wie Du lieber den lebenden in Erinnerung behalten.

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  5. *Seufz*... überall, in drei Blogs schon, das Thema Tod. Ich bin - nachdenklich, traurig, berührt. Kann jetzt nicht weiter darauf eingehen...

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